Gemeinsames Versandverfahren (gVV): Der Rechtsleitfaden für deutsche Unternehmen 2025

Der grenzüberschreitende Warenverkehr gleicht oft einem bürokratischen Dschungel, voller kostspieliger Fallstricke und zeitraubender Verzögerungen. Für den deutschen Mittelstand kann dies schnell zu einem Wettbewerbsnachteil werden. Die Lösung liegt jedoch oft in einem Verfahren, das viele kennen, aber nur wenige rechtssicher beherrschen: das gemeinsame Versandverfahren (gVV). Es ist die Effizienz-Autobahn Ihrer Lieferkette, die Liquidität schont und Prozesse beschleunigt. Dieser Artikel ist Ihr juristischer Leitfaden der Kanzlei O&W Rechtsanwaltsgesellschaft. Wir gehen über rein logistische Erklärungen hinaus und stellen die Rechtssicherheit in den Fokus, damit Sie das Verfahren optimal und risikofrei nutzen können. Aus unserer langjährigen Praxis wissen wir, dass ein klares Verständnis der Grundlagen, der praktischen Abwicklung und der juristischen Verantwortlichkeiten der Schlüssel zum Erfolg ist.

Die rechtlichen Grundlagen: gVV, UVV, T1 und T2 klar unterschieden

Gemeinsames Versandverfahren

Ein solides Fundament ist unerlässlich, um die Vorteile des Versandverfahrens zu nutzen und teure Fehler zu vermeiden. Die Begriffe mögen ähnlich klingen, doch ihre Bedeutung im Zollrecht ist strikt getrennt.

Was ist das gemeinsame Versandverfahren (gVV)? Eine Definition

Das gemeinsame Versandverfahren (gVV) ist ein internationales Zollverfahren, das den Transport von Waren zwischen der Europäischen Union (EU) und den sogenannten gVV-Vertragsparteien (z.B. Schweiz, UK, Norwegen) unter zollamtlicher Überwachung erheblich vereinfacht. Der Kernnutzen liegt in der Aussetzung der Einfuhrabgaben: Anfallende Zölle und die Einfuhrumsatzsteuer werden nicht an jeder einzelnen Grenze fällig, sondern erst bei der abschließenden Zollabfertigung am Bestimmungsort. Dies schont die Liquidität und beschleunigt den Warenfluss. Die juristische Grundlage bildet das Übereinkommen über ein gemeinsames Versandverfahren, welches die Regeln und Pflichten für alle Teilnehmer festlegt.

Abgrenzung: Gemeinsames (gVV) vs. Unionsversandverfahren (UVV)

Die Unterscheidung ist einfach, aber wichtig:

  • Unionsversandverfahren (UVV): Gilt ausschließlich für den Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten der EU, wenn dabei das Territorium eines Drittlandes durchquert wird.
  • Gemeinsames Versandverfahren (gVV): Erweitert die Regeln des UVV auf die teilnehmenden Nicht-EU-Länder (die EFTA-Staaten, Vereinigtes Königreich, Türkei, etc.).

Im Grunde ist das gVV also das UVV plus zusätzliche Länder. Für Sie als Anwender bedeutet das eine willkommene Vereinfachung, da in der Praxis weitgehend dieselben Regeln gelten. Diese Systematik wird durch die offiziellen Richtlinien des deutschen Zolls bestätigt.

T1 vs. T2: Wann ist welches Versanddokument das richtige?

Dies ist eine der häufigsten Fehlerquellen in der Zollabwicklung. Die Wahl des falschen Dokuments kann zu erheblichen Komplikationen führen. Entscheidend ist einzig und allein der zollrechtliche Status der Ware.

Merkmal T1-Versandverfahren T2-Versandverfahren
Warenstatus Nicht-Unionswaren Unionswaren
Beschreibung Waren, die aus einem Drittland stammen und in der EU noch nicht zum zollrechtlich freien Verkehr überlassen (verzollt) wurden. Waren, die sich in der EU im zollrechtlich freien Verkehr befinden (inkl. in der EU hergestellte Waren).
Praxisbeispiel Elektronik aus China wird im Hamburger Hafen entladen und soll unverzollt zu einem Empfänger in die Schweiz transportiert werden. Deutsche Maschinen werden von Stuttgart durch die Schweiz zu einem Kunden nach Mailand, Italien, transportiert.

Prüfen Sie immer den zollrechtlichen Status Ihrer Ware, bevor Sie ein Versandverfahren eröffnen. Der Herstellungsort allein ist nicht entscheidend!

Praktische Abwicklung & das wichtige Update zu NCTS Phase 5

Die gesamte Kommunikation und Abwicklung des gemeinsamen Versandverfahrens erfolgt digital. Das Verständnis des Prozesses und der anstehenden Änderungen ist für einen reibungslosen Ablauf entscheidend.

Schritt-für-Schritt: Der Ablauf über das NCTS/ATLAS-System

Das Verfahren wird über das „New Computerised Transit System“ (NCTS), in Deutschland speziell über die ATLAS-Software (Automatisiertes Tarif- und Lokales Zoll-Abwicklungs-System), gesteuert.

  1. Eröffnung: Der sogenannte „Hauptverpflichtete“ (meist der Spediteur oder das Unternehmen selbst) übermittelt die Versandanmeldung elektronisch an die zuständige Abgangszollstelle.
  2. Sicherheitsleistung: Zur Absicherung der möglicherweise anfallenden Zollschuld muss eine Sicherheit in Form einer Bürgschaft hinterlegt werden.
  3. Überführung & Transport: Nach Prüfung und Annahme der Anmeldung gibt die Zollstelle die Waren frei. Der Transport erfolgt mit dem Versandbegleitdokument (VBD), das einen einzigartigen Movement Reference Number (MRN) Barcode zur Identifikation enthält.
  4. Gestellung & Beendigung: Die Ware wird bei der Bestimmungszollstelle im Zielland „gestellt“ (präsentiert). Diese prüft die Sendung und erledigt das Verfahren im NCTS.
  5. Entlastung: Erst nach der digitalen Erledigung durch die Bestimmungszollstelle wird die Bürgschaft des Hauptverpflichteten wieder freigegeben. Eine fehlende Erledigung kann zur Inanspruchnahme der Sicherheit führen.

Die Vertragsparteien: Aktuelle Länderliste 2025 und strategische Routenplanung

Die Kenntnis der teilnehmenden Länder ist für eine effiziente Routenplanung unerlässlich. Aktuell gehören dazu:

  • Die 27 EU-Mitgliedstaaten
  • Die 4 EFTA-Staaten (Schweiz, Norwegen, Island, Liechtenstein)
  • Türkei
  • Nordmazedonien
  • Serbien
  • Vereinigtes Königreich
  • Ukraine

Strategisch bedeutet dies, dass Sie beispielsweise Transporte nach Italien durch die Schweiz planen können, ohne auf ein umständlicheres Carnet TIR zurückgreifen zu müssen. Der rezente Beitritt der Ukraine ist zudem ein wichtiger Faktor für den Handel und den zukünftigen Wiederaufbau. Eine aktuelle Übersicht bieten die Informationen der EU-Kommission zum Versandverfahren.

WICHTIGES UPDATE: Die Umstellung auf NCTS Phase 5 in 2025

Die für 2025 geplante vollständige Umstellung auf NCTS Phase 5 ist mehr als nur ein technisches Update – sie hat erhebliche inhaltliche Auswirkungen auf Ihre Prozesse.

Die größte Änderung ist die verpflichtende Angabe der 6-stelligen HS-Warennummer (Position des Harmonisierten Systems) für jede einzelne Warenposition in der Versandanmeldung.

Praktische Implikationen für Ihr Unternehmen:

  • Datenverfügbarkeit: Sie müssen sicherstellen, dass die korrekten Warennummern für alle Ihre Produkte in Ihren Stammdaten (ERP-System) hinterlegt und jederzeit abrufbar sind.
  • Informationsfluss: Diese Information muss Ihrem Spediteur oder dem zuständigen Mitarbeiter für die Zollanmeldung fehlerfrei zur Verfügung gestellt werden.
  • Folgen bei Nichtbeachtung: Fehlende oder falsche HS-Codes führen unweigerlich zu Verzögerungen bei der Abfertigung, zu fehlerhaften Anmeldungen und im schlimmsten Fall zu Zollstrafen.

Vorteile, Pflichten und die Minimierung von Haftungsrisiken

Das gVV ist ein zweischneidiges Schwert: Es bietet enorme Vorteile, birgt aber bei falscher Handhabung ebenso große Risiken.

Vom Mittelstand oft übersehen: Konkrete Zeit- und Kostenvorteile

  1. Liquiditätsvorteil: Der mit Abstand größte Vorteil. Zölle, Einfuhrumsatzsteuer und Verbrauchsteuern werden erst im Bestimmungsland fällig. Ihr Kapital wird nicht für Wochen an der Grenze gebunden, sondern steht Ihrem Unternehmen weiterhin zur Verfügung.
  2. Zeitersparnis: Die Grenzabfertigung reduziert sich auf ein Minimum. Statt langwieriger Zollabwicklungen an jedem Grenzübergang wird die Sendung im System gescannt und kann ihre Fahrt zügig fortsetzen.
  3. Planbarkeit: Ihre Lieferkette wird berechenbarer. Das Risiko unvorhergesehener, zollbedingter Stopps sinkt dramatisch, was zu höherer Kundenzufriedenheit und zuverlässigeren Lieferterminen führt.

Der Weg zur Vereinfachung: „Zugelassener Versender“ & „Zugelassener Empfänger“

Für Unternehmen mit regelmäßigem Versandaufkommen gibt es bedeutende Vereinfachungen:

  • Zugelassener Versender (ZV): Mit dieser Bewilligung dürfen Sie Versandverfahren direkt von Ihrem eigenen Betriebsgelände aus eröffnen, ohne die Waren bei einer Zollstelle gestellen zu müssen. Das bedeutet maximale Flexibilität.
  • Zugelassener Empfänger (ZE): Als ZE dürfen Sie Waren, die im gVV befördert werden, direkt an Ihrem eigenen Standort empfangen und das Verfahren dort beenden.

Voraussetzungen sind unter anderem die regelmäßige Nutzung des Verfahrens, eine tadellose Zoll-Vergangenheit und eine ordnungsgemäße Buchführung. Diese Bewilligungen sind ein enormer Effizienz-Booster. Detaillierte Informationen zum Antragsverfahren bieten die jeweiligen Zollbehörden, wie beispielsweise die Informationen der Schweizer Zollbehörde für die Schweiz.

Rechtliche Fallstricke: Die Rolle und Haftung des Hauptverpflichteten

Der Hauptverpflichtete ist die Person oder das Unternehmen, das die Versandanmeldung abgibt (oder in dessen Namen sie abgegeben wird). Damit ist er gegenüber den Zollbehörden für die ordnungsgemäße Durchführung des gesamten Transports verantwortlich.

Das Kernrisiko: Der Hauptverpflichtete haftet für die potenziell entstehende Zollschuld, wenn das Verfahren nicht ordnungsgemäß erledigt wird. Geht die Ware auf dem Transportweg verloren oder wird sie der zollamtlichen Überwachung entzogen (z.B. durch Diebstahl), erheben die Zollbehörden die entstandene Zollschuld direkt beim Hauptverpflichteten – unabhängig davon, wer den Fehler verursacht hat.

Aus der über 38-jährigen Erfahrung unserer Kanzlei im Zollrecht wissen wir, dass solche Zollschulden schnell existenzbedrohende Ausmaße annehmen können. Eine persönliche Haftung der Geschäftsleitung ist dabei nicht ausgeschlossen.

Minimierung der Risiken:

  • Sorgfältige Partnerwahl: Arbeiten Sie nur mit zuverlässigen Spediteuren und Transportunternehmen.
  • Lückenlose Dokumentation: Stellen Sie sicher, dass alle Angaben korrekt sind.
  • Proaktives Monitoring: Überwachen Sie den Status Ihrer Sendungen aktiv im NCTS/ATLAS.
  • Sofortiges Handeln: Bei Unregelmäßigkeiten (z.B. eine fehlende Erledigungsnachricht) müssen Sie sofort handeln und ein Suchverfahren einleiten lassen.

Häufig gestellte Fragen (FAQ) zum gemeinsamen Versandverfahren


  • Was ist das gemeinsame Versandverfahren?

    Das gemeinsame Versandverfahren ist ein zollrechtliches Verfahren, das den Transport von Waren zwischen der EU und bestimmten Nicht-EU-Ländern (wie der Schweiz oder UK) vereinfacht, indem Zölle und Abgaben erst im Bestimmungsland erhoben werden.


  • Welche Länder nehmen am gemeinsamen Versandverfahren teil?

    Zu den Teilnehmern gehören die 27 EU-Staaten, die 4 EFTA-Staaten (Schweiz, Norwegen, Island, Liechtenstein), die Türkei, Nordmazedonien, Serbien, das Vereinigte Königreich und die Ukraine.


  • Was ist der Unterschied zwischen T1- und T2-Verfahren?

    Das T1-Verfahren wird für noch nicht verzollte Nicht-Unionswaren verwendet, während das T2-Verfahren für Unionswaren gilt, die durch ein teilnehmendes Nicht-EU-Land (z.B. die Schweiz) transportiert werden.


  • Wie funktioniert die elektronische Abwicklung über NCTS?

    Die Abwicklung erfolgt vollständig elektronisch über das NCTS (New Computerised Transit System), in Deutschland über die ATLAS-Software. Anmeldungen, Überwachung und Erledigung des Verfahrens werden digital zwischen dem Versender und den Zollbehörden ausgetauscht.


  • Was ist ein 'Zugelassener Versender'?

    Ein ‚Zugelassener Versender‘ ist ein Unternehmen, das vom Zoll die Bewilligung erhalten hat, Versandverfahren direkt vom eigenen Firmengelände aus zu starten, ohne die Ware bei einer Zollstelle vorführen zu müssen, was den Prozess erheblich beschleunigt.


Fazit: Vom Bürokratie-Dschungel zur strategischen Effizienz-Autobahn

Das gemeinsame Versandverfahren ist ein überaus mächtiges Instrument zur Optimierung Ihrer internationalen Lieferkette und zur Schonung Ihrer Liquidität. Der Schlüssel zum Erfolg liegt jedoch im Detail: im Verständnis der rechtlichen Grundlagen, der korrekten alltäglichen Anwendung von T1 und T2 und vor allem im proaktiven Management der juristischen Haftungsrisiken. Die anstehende Umstellung auf NCTS Phase 5 macht eine Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung Ihrer internen Prozesse jetzt unerlässlich.

Das gemeinsame Versandverfahren bietet enorme Chancen, birgt aber auch Haftungsrisiken, die Geschäftsführer nicht ignorieren dürfen. Wenn Sie rechtssichere Unterstützung bei der Einführung, Optimierung oder bei Unregelmäßigkeiten im Verfahren benötigen, stehen Ihnen die Anwälte der O&W Rechtsanwaltsgesellschaft mit ihrer langjährigen Expertise zur Seite. Kontaktieren Sie uns für eine Erstberatung.

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Dieser Artikel wurde am 7. November 2025 erstellt.

Ihr Ansprechpartner

  • Dr. Tristan Wegner

    ABC-Str. 21
    20354 Hamburg
  • Dr. Tristan Wegner ist seit 2013 als Rechtsanwalt im internationalen Handels- und Transportrecht tätig und hat über 10 Jahre Erfahrung. Er ist Fachanwalt für Transport- und Speditionsrecht. Er ist geschäftsführender Partner der Kanzlei. Herr Dr. Wegner war für eine international führende Kanzlei im Zoll– und Außenwirtschaftsrecht sowie für die Zollfahndung tätig und hat zum internationalen Handel promoviert. Rechtsanwalt Dr. Wegner ist regelmäßig in der Fachpresse und veröffentlicht Aufsätze. Er ist Mitglied im Versicherungswissenschaftlichen Verein Hamburg, der Deutschen Initiative junger Schiedsrechtler (DIS40) sowie dem Europäischen Forum für Außenwirtschaft, Verbrauchsteuern und Zoll, dem Verein für Seerecht und der GMAA. Er ist zudem Dozent und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg.